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Shuttle-Mediation – der Lösungsweg im Bahnkonflikt ?!

Was dem amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter im Jahre 1978 in Camp David gelang, nämlich im Rahmen einer Pendeldiplomatie einen Friedenvertrag zwischen den verfeindeten Kriegsparteien Ägypten und Israel (seinerzeit vertreten durch Staatspräsident Anwar al-Sadat und Ministerpräsident Menachim Begin) auszuhandeln,1 sollte im Konflikt zwischen der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer -GDL- und der Deutsche Bahn AG -DB- ebenfalls möglich sein!

Zwar hatte es auch früher schon zwischen den Tarifpartner GDL und DB gehörig gekracht, beispielsweise im Jahre 2008, als der seinerzeitige Tarifkonflikt erst nach elf Monaten im Rahmen eines Schlichterspruchs beigelegt werden konnte.2 Doch was sich aktuell zwischen GDL und DB abspielt sucht in der Tarifgeschichte seinesgleichen und hängt möglicherweise auch mit den jeweiligen Protagonisten der Konfliktparteien, Gewerkschaftschef Claus Weselsky und Bahnverhandlungsführer Martin Seiler, zusammen.3

Sechs Tage Streik im Güterverkehr und sechs Tage Streik im Personenverkehr4 stellen aktuell nicht nur die Bevölkerung auf eine sehr harte Probe (und konterkarieren in gewissem Umfang den aus Klimaschutzgesichtspunkten propagierten Umstieg von der Straße auf die Schiene), sondern verursachen zudem durch Lieferengpässe und Produktionsausfälle für die Wirtschaft nicht unerhebliche Kosten, die pro Tag auf bis zu 100 Millionen Euro geschätzt werden5 – und das in einer Zeit, in der sich die Bundesrepublik Deutschland in einer schwache Rezession befindet.

Vielfach stellt sich daher die Frage: „Darf die Gewerkschaft das?“

Die Koalitionsfreiheit – in Art. 9 Abs. 3 GG als Grundrecht geschützt – wird in der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte und des Bundesverfassungsgerichts weit ausgelegt. Dementsprechend heißt es in der Entscheidung des BVerfG vom 9. Juli 2020 -1 BvR 720/19 -:

„Das Grundrecht schützt die individuelle Freiheit, Vereinigungen zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu bilden und diesen Zweck gemeinsam zu verfolgen. Geschützt ist damit auch das Recht der Vereinigungen selbst, durch spezifisch koalitionsmäßige Betätigung die in Art. 9 Abs. 3 GG genannten Zwecke zu verfolgen, wobei die Wahl der Mittel, die die Koalitionen zur Erreichung dieses Zwecks für geeignet halten, grundsätzlich ihnen selbst überlassen ist (vgl. BVerfGE 92, 365 <393 f.>; 100, 271 <282>; 116, 202 <219>; 146, 71 <114>; stRspr). Dabei ist der Schutz der Koalitionsfreiheit nicht etwa von vornherein beschränkt, sondern erstreckt auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen. Art. 9 Abs. 3 GG umfasst also nicht nur die Gründung von Koalitionen und die Mitgliederwerbung (vgl. BVerfGE 93, 352 <358>), sondern insbesondere mit der Tarifautonomie den Abschluss von Tarifverträgen und Arbeitskampfmaßnahmen, jedenfalls soweit sie erforderlich sind, um eine funktionierende Tarifautonomie sicherzustellen, einschließlich des Streiks (vgl. BVerfGE 84, 212 <224 f.>; 88, 103 <114>; 92, 365 <393 f.>; 146, 71 <115 Rn. 131>). Dem entspricht es, wenn die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung davon ausgeht, dass eine eigenständige Lösungsfindung der Koalitionsparteien unabhängig von staatlicher Einflussnahme nur möglich ist, wenn beide Parteien in der Lage sind, Druck auf die jeweils andere Partei auszuüben. Auf Seiten der Gewerkschaften bedarf es des Streiks, um ihre strukturelle Verhandlungsschwäche auszugleichen. Ohne diese oder gleich effektive Eskalationsstufen zur Herstellung von Kompromissfähigkeit wären Kollektivverhandlungen nur „kollektives Betteln“ (grundlegend BAG, Urteil vom 12. September 1984 – 1 AZR 342/83 -, juris, Rn. 96). Ein fairer und ausgewogener Ausgleich gegensätzlicher Arbeitsvertragsinteressen im Wege kollektiver Verhandlungen beruht insoweit auf annähernd gleicher Verhandlungsstärke und Durchsetzungskraft (vgl. BVerfGE 84, 212 <229>; 146, 71 <127 f. Rn. 164>).“6

Doch was bedeutet all dies, wenn erheblicher Nebenfolgen des Streiks für nicht direkt am Tarifkonflikt Beteiligte (nämlich Bevölkerung und Wirtschaft) auftreten? Und wenn diese Drittbetroffenheit, wie hier bei Reisenden und der Wirtschaft, in besonderem Maße – nämlich bundesweit und über einen längeren Zeitraum – besteht?

In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es anerkannt, dass Grundrechte nicht uneingeschränkt ausgeübt werden können. In der oben zitierten Entscheidung vom 9. Juli 2020 führt das BVerfG aus, dass nach der Maßgabe praktische Konkordanz die Ausübung eines Grundrechts nicht dazu führen darf, dass ein anderes Grundrecht vollständig verdrängt wird und dass kollidierende Grundrechtspositionen vielmehr in Ausgleich zu bringen sind.

Wenn aber bundesweit und über einen längeren Zeitraum Reisenden die Möglichkeit genommen wird, im Rahmen ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit sich dorthin zu begeben, wohin sie wollen, dann wird ihnen das verwehrt, was ihnen Art. 2 Abs. 1 GG garantiert. Und auch im Hinblick auf die Wirtschaft und deren Betätigungsfreiheit, geschützt durch Art. 12 Abs. 1 i. V. m. Art 2 Abs. 1 und Art 14 GG, besteht die Gefahr, dass Produktionslinien stillgelegt werden müssen und dass Arbeitnehmern die Möglichkeit genommen wird, ihrer Beschäftigung nachzugehen und ggf. Einkommensverluste hinzunehmen haben.

Ausgehend von diesem Szenario werden insbesondere bei kritischer Infrastruktur wie bspw. der Bahn, den Flug- und Seehäfen, den kommunalen Versorgungseinrichtungen, Krankenhäusern etc. Stimmen laut, hier nach anderen Lösungswegen zu suchen7 – beispielsweise durch die frühzeitige Einschaltung eines Schlichters. Erst wenn dessen Vorschlag abgelehnt wird, solle die Möglichkeit bestehen, Streikmaßnahmen durchzuführen.8 Andere wiederum fordern eine intensivere Anwendung des Grundsatzes der praktischen Konkordanz (also des Ausgleichs und der Abwägung der in Widerstreit stehenden Grundrechte) in der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte.

All diese Gedanken aufgreifend soll mit dem vorliegenden Beitrag der Blick auf die Vorteile der Mediation, in concreto der Shuttle-Mediation, auch bei verhärteten Tarifauseinandersetzungen gelenkt werden. Mediation, und das gilt generell für alle ihre Formen und Ausgestaltungen, setzt Freiwilligkeit voraus – eine Freiwilligkeit, die aktuell bei den Tarifparteien nicht gegeben zu sein scheint. Was also tun?

Nach Auffassung des Verfassers ist in Fällen wie dem vorliegenden, bei dem vier Streikaktionen nur zwei Verhandlungsrunden gegenüberstehen, die Politik gefordert. Hält sie sich zur Recht bei herkömmlichen Tarifauseinandersetzungen mit Stellungnahmen zurück, ist diese Zurückhaltung bei so starker Drittbetroffenheit wie dem gegenwärtigen Streik nicht mehr geboten, im Gegenteil: Bundesregierung bzw. Verkehrsminister sind in besonderem Maße aufgerufen, den Tarifparteien eine Mediation dringend zu empfehlen. Schon 2008 hatte der Verfasser die Vorteile der Mediation auch in Tarifauseinandersetzungen betont9 und ausgeführt, dass die Mediation auf die Konfliktparteien selbst, ihre Interessen und die nur ihnen selbst bekannten Lösungsoptionen setzt. Sie weist den Streitenden einen Weg, stellt ihnen eine Methode zur Verfügung, um zu einer Lösung zu gelangen, die für beide ein Win-Win Situation darstellt. Mehr nicht – und doch deutlich mehr als andere Konfliktlösungsinstrumente wie eine Schlichtung, die auf den Dritten (meist eine Person aus der Politik) deshalb setzt, weil er eine Lösung präsentiert oder gar vorschreibt!

Sind jedoch in Tarifauseinandersetzungen wie der zwischen GDL und DB die Fronten derart verhärtet, dass sich die jeweiligen Protagonisten persönlich angehen, so stellt die Shuttle-Mediation die Methode der Wahl dar:

> Hierunter wird gemeinhin eine Abfolge von Einzelgesprächen verstanden, die der Mediator mit jeweils einer Konfliktpartei führt, die Ergebnisse sodann der anderen Partei ebenfalls in einem Einzelgespräch vermittelt und deren Antwort wiederum in einem weiteren Einzelgespräch erörtert usf.10

> Dass dabei Vertraulichkeit gegenüber Dritten während der Verhandlungen oberstes Gebot ist, versteht sich von selbst und soll hier nicht weiter vertieft werden, ebenso wenig der Umstand, dass der Mediator einer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegt.

> Die Orientierung an den herkömmlichen Mediationsphasen (Themen, Interessen, Optionen, Verhandlungen, Vereinbarungen) gewährleistet auch für die Shuttle-Mediation einen Rahmen, der für den Erfolg einer Mediation im Sinne einer interessensorientieren Konfliktlösung wichtig ist. Allerdings lassen sich die einzelnen Phasen in getrennten Gesprächen nicht immer klar einhalten und drohen zu verwischen. So werden bspw. wegen der unterschiedlichen emotionalen Situation der Konfliktparteien in den Einzelgesprächen regelmäßig phasenübergreifende Inhalte erörtert. Es ist Aufgabe des Mediators, bei jedem Gespräch auf einen Ausgleich zwischen den Parteien zu achten, die Gesprächsinhalte zusammenzufassen und in das Phasenmodell zu verorten und jeweils abzuklären, was der anderen Konfliktpartei mitgeteilt werden darf.

> Die Vorteile einer Shuttle-Mediation liegen auf der Hand: Sie beginnen damit, dass die Verhandlungsparteien regelmäßig weniger Stress aufbauen, als dies in gemeinsamen Präsenzterminen der Fall wäre.

> Hochemotionale und hochstrittige Konfliktbeteiligte müssen nicht die Hemmschwelle eines persönlichen Kontakts mit der Gegenseitige überwinden, wenn sie ausschließlich in Einzelgesprächen mit dem Mediator die Konfliktlage erörtern.

> Und auch Konflikteskalationen sind reduziert, wenn das Gespräch nur mit dem Mediator geführt wird. Gleichwohl auftretende Aggressionen und Gefühlsausbrüche können vom Mediator sofort und in der Sache einfacher aufgenommen und normalisiert werden, als wenn dies in Gegenwart der anderen Konfliktpartei geschieht.

> Zur Versachlichung trägt ferner bei, dass auf Vorschläge der Gegenseite nicht sofort geantwortet werden muss, der Spontanitätszwang, der häufig in der Präsenzsitzung auftritt, mithin entfällt.11

> Der Mediator kann im Einzelgespräch einfacher die Rolle des Advocatus Diaboli12 wie auch die eines agent of reality13 einnehmen und so zu realistischen Einschätzungen der Konfliktlagen beitragen.

> Und schließlich kann der Mediator bei auftretenden Blockaden und wenn Wechselseitigkeit/Window II sowie Perspektivwechsel schwerfallen, sich leichter Konflikt-Coaching-Tools14 bedienen, ohne hierfür – wie in der klassischen Mediation – erst ein Einzelgespräch mit den Parteien vereinbaren zu müssen.

> Ob und wann schließlich in einen Präsenzmodus gewechselt wird, bereits während der Gespräche oder erst nach Erreichen eines Ergebnisses, hängt von den Konfliktparteien ab.

Die demgegenüber bestehenden Nachteile der Shuttle-Mediation wie ein möglicherweise bestehendes oder auftretendes Misstrauen bei den Parteien, ob die Allparteilichkeit durch den Mediator eingehalten oder ob die jeweilige Sichtweise der anderen Partei zutreffend und ohne korrigierende Eingriffe durch den Mediator vermittelt wird, treten angesichts der beschriebenen Vorteile, die Konfliktbeteiligten überhaupt zu „getrennten“ Verhandlungen zu bewegen, bei einer Gesamtbetrachtung in den Hintergrund.

Was ist – um auf den Ausgangskonflikt GDL vs. BD zurückzukommen – mithin zu tun ?

Politik wie Öffentlichkeit sind aufgerufen, die Konfliktparteien die Notwendigkeit des Dialogs, hier in der Form einer Shuttle-Mediation, deutlich vor Augen zu führen. Das Drängen zu derartigen Gesprächen ist im Hinblick auf die Koalitionsfreiheit ein deutliches Minus gegenüber den Überlegungen, durch gesetzliche Regelungen vor einem Arbeitskampf zwingend eine Schlichtung zu verordnen.

1 Wright, Dreizehn Tage im September, 2016.

2 Vgl. nur Fritz, Der verpasste Königsweg im Bahnkonflikt – Mediation, NJW 2008, 2312 ff.

3 https://www.bernerzeitung.ch/deutsche-bahn-im-streik-warum-lokfuehrerboss-weselsky-eskaliert-100336542393 (Datum des Zugriffs: 25.1.2024).

4 Von Dienstag Abend, 23. Januar, 18:00 Uhr (Güterverkehr) bzw. Mittwoch Nacht, 24. Januar 02:00 Uhr (Personenverkehr), bis Montag, 26. Januar 2024.

5 https://www.swr.de/swraktuell/gdl-streik-streikrecht-100.html (Datum des Zugriffs: 25.1.2024).

6 https://www.bverfg.de/e/rk20200709_1bvr071919.html (Datum des Zugriffs: 25.1.2024).

7 Vgl. Robbe, Grenzen des Streikrechts, S. 9 ff, https://www.bundestag.de/resource/blob/504094/1d4904d7a73bd1f00775b2406642f133/Grenzen-des-Streikrechts-data.pdf (Datum des Zugriffs: 25.1.2024)

8 https://www.swr.de/swraktuell/gdl-streik-streikrecht-100.html (Datum des Zugriffs: 25.1.2024).

9 Fritz, Der verpasste Königsweg im Bahnkonflikt – Mediation, NJW 2008, 2312 ff.

10 Dies geschieht regelmäßig so lange, bis eine Einigung erzielt ist oder die Konfliktparteien auf gemeinsame Gespräche umschwenken: Schmidt / Lapp / May, Mediation in der Praxis des Anwalts, 2. Aufl., § 5 Rn. 417.

11 Risse, Wirtschaftsmediation, 2. Aufl., § 7 Rn. 165 f.

12 Risse, Wirtschaftsmediation, 2. Aufl., § 7 Rn. 167.

13 https://iamed.org/archive/reframing-the-role-of-mediator-part-3-mediator-as-risk-assessor-and-agent-of-reality/ (Datum des Zugriffs: 15.01.2024).

14 Fritz / Klenk, Einzelgespräche und Konflikt-Coaching-Tools,ZKM 2016, 164 ff, 210 ff.

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